„Wir brauchen Sachverstand für das Gelingen der Verfahren“

Interview mit Dr. Bettina Meincke, Vizepräsidentin des Landgerichts Bonn

Dr. Bettina Meincke, Vizepräsidentin des Landgerichts Bonn

Regelmäßig bitten die Gerichte öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige um deren Expertise. Welche Rolle Sachverständigengutachten in einem Verfahren spielen und worauf es ankommt, erklärt die Juristin Dr. Bettina Meincke, seit 2022 Vizepräsidentin des Landgerichts Bonn. Hier ist sie unter anderem für die Themen Handelsrichter und Sachverständige verantwortlich. Zugleich ist sie als Richterin Vorsitzende einer Berufungszivilkammer und zieht immer wieder Sachverständige hinzu. 

Von der IHK öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige werden immer wieder auch im Auftrag von Gerichten tätig. Wann ist das der Fall? Und weshalb?

Dr. Bettina Meincke: Schwerpunktmäßig kommen diese Sachverständigen in Zivilprozessen, also in den Verfahren „Bürger gegen Bürger“, zum Einsatz. Im Prozess werden die Tatsachen vorgetragen, die für den jeweiligen rechtlichen Fall relevant sind. Als Richterin muss ich klären, ob das, was die Personen vortragen, tatsächlich stimmt. Wenn zur Beurteilung von Tatsachen Fachwissen erforderlich ist, braucht es Sachverständige. 

Der Sachverständigenbeweis ist ein Beweismittel im Verfahren, um zweifelsfrei festzustellen, dass die behaupteten Tatsachen tatsächlich zutreffen – oder eben nicht. Auch in Strafprozessen kann eine Sachfrage relevant werden, die aufgeklärt werden muss. Sachverständigenbeweise kommen auch hier vor, aber es geht dann eher um medizinische oder psychologische Gutachten.

Auf welchen Rechtsgebieten holen die Gerichte besonders häufig Gutachten ein?

Klassische Bereiche sind Verkehrsdelikte oder Streitigkeiten rund um Bauwerke. Davon sind etwa die bauausführenden Betriebe betroffen. Wenn sie Kläger sind, geht es zum Beispiel um Vergütungsansprüche, die die Firmen für ihre Leistungen geltend machen. 

Sind sie Beklagte, geht es um Schadensersatz; sie sehen sich mit dem Vorwurf der Bauherren konfrontiert, eine Leistung falsch ausgeführt zu haben. In Verkehrsunfallsachen geht es um die Unfallanalyse, also die Frage, wie sich der Verkehrsunfall tatsächlich ereignet und welches Fahrzeug in welcher Weise zum Unfallgeschehen beigetragen hat.

Werden Sachverständige in Gerichtsverfahren im Auftrag des Gerichts aktiv – oder können auch die Prozessparteien im Rahmen des Verfahrens Gutachten beauftragen? Was ist dabei zu beachten?

In der Regel beauftragt das Gericht einen Sachverständigen, nämlich immer dann, wenn es eine Frage für streitig und – wie es rechtstechnisch heißt – für erheblich hält und wenn es davon ausgeht, dass diese Frage von einem Sachverständigen beantwortet werden muss. 

Aber natürlich können auch die Parteien privat einen Sachverständigen beauftragen. Das kommt sogar relativ häufig vor, und zwar, um ihren eigenen Vortrag im Prozess zu untermauern. Das entsprechende Gutachten kann dann bei Gericht als Privatgutachten vorgelegt werden, um den Parteivortrag zu ergänzen. 

Der Gerichtssachverständige hat sich dann mit diesen privaten Gutachten auseinanderzusetzen, soweit sie von den eigenen sachverständigen Erkenntnissen abweichen. Maßgeblich für das Gericht ist dann, was der von ihm eingesetzte Gutachter oder die eingesetzte Gutachterin nachvollziehbar und überzeugend feststellt. 

Welchen Einfluss haben Sachverständigengutachten auf die Urteilsfindung?

Die Sachverständigen, die wir regelmäßig beauftragen, sind öffentlich bestellt und vereidigt, beispielsweise durch die IHK. Das ist für uns definitiv ein Qualitätsmerkmal, zudem sieht das Gesetz deren Beauftragung vor. Am Ende läuft es aus Sicht des Gerichtes auf eine Plausibilitätskontrolle hinaus: Verstehe ich selbst das, was mir der oder die Sachverständige erklärt? 

Darin liegt auch die Kunst von Sachverständigen: die ihnen gestellte fachliche Frage in einfachen, klaren Worten so zu beantworten, so dass es das Gericht und die Verfahrensbeteiligten als fachliche Laien nachvollziehen können.  Nur wenn das der Fall ist, können wir Richterinnen und Richter in den Urteilen ausführen, dass und warum wir das, was der Sachverständige im Verfahren festgestellt hat, aus den dann dargestellten Gründen für überzeugend halten. 

In den Fällen, in denen dem Gericht ein Sachverständigengutachten nicht plausibel erscheint, kann es um schriftliche Ergänzung oder mündliche Erläuterung bitten. Unter bestimmten rechtlichen Voraussetzungen kann es ein neues Gutachten (auch) eines anderen Sachverständigen oder sogar ein Obergutachten beauftragen, also quasi eine Beurteilung des Sachverständigen durch einen anderen Sachverständigen.

Welchen Stellenwert haben die Sachverständigen und ihre Kompetenzen für Gerichte? 

Formal betrachtet stehen alle Beweismittel gleichberechtigt nebeneinander. Sachverständigengutachten spielen erfahrungsgemäß aber eine große Rolle, einfach weil bei vielen Aspekten nur Sachverständige wirklich einschätzen können, ob bestimmte Tatsachenbehauptungen stimmen oder nicht. Um es ganz deutlich zu sagen: Die Gerichte sind angewiesen darauf, dass es qualifizierte Sachverständige gibt. 

Auch aus Sicht der Streitparteien ist es für die Rechtsfindung unerlässlich, eine kompetente fachliche Beurteilung zu bekommen. Ohne Sachverständige wären viele Zivilprozesse für die Parteien nicht überzeugend zu entscheiden. Wir brauchen ihren Sachverstand für das Gelingen der Verfahren.

Das Interview führte Lothar Schmitz, freier Journalist, Bonn