Rezepte zur Fachkräftesicherung

Die richtige Prise gegen die Krise

Fachkräftemangel: Die richtige Prise gegen die Krise

Restaurants ohne Köche, Altenheime ohne Pflegerinnen, Verkehrsbetriebe ohne Berufskraftfahrer: Überall fehlt qualifiziertes Personal. Und das kostet Geld. Viel Geld. Ohne den Fachkräftemangel könnten deutsche Unternehmen in diesem Jahr etwa 49 Milliarden Euro mehr erwirtschaften, wie eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) zeigt. Wenn nun die „Babyboomer“ in Rente gehen, wird die Lage auf dem Arbeitsmarkt noch einmal deutlich angespannter. Mit dem Fehlen qualifizierter Mitarbeiter geht allerdings auch ein enormes Produktionspotenzial verloren. Das IW geht aktuell davon aus, dass der deutschen Wirtschaft dadurch im Jahr 2027 rund 74 Milliarden Euro entgehen werden.

In Bonn und der Region werden nach aktuellen Prognosen bis 2035 rund 57 000 Fachkräfte fehlen. Dabei schlummern in vielen Unternehmen „Rohdiamanten“, die nur geschliffen werden müssten, um zu glänzen. Mitarbeitende, die durch gezielte Weiterbildungsmaßnahmen eine höhere Qualifizierung erreichen können. Mit der Fachkräfteberatung unterstützt die IHK Bonn/Rhein-Sieg Betriebe bei der Entwicklung konkreter Strategien zur Sicherung ihres Fachkräftebedarfs. Gleichzeitig bietet sie auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern eine Vielzahl von Möglichkeiten, neue Wege einzuschlagen. Dafür hat die Kammer individuelle sowie maßgeschneiderte Lösungen entwickelt.

„Wir haben damit ein Bündnis für Fachkräfte auf den Weg gebracht“, sagt Jürgen Hindenberg, Geschäftsführer Berufsbildung und Fachkräftesicherung bei der IHK. „Der Fachkräftemangel ist inzwischen das größte Risiko für die Unternehmen und trifft alle Branchen und Arbeitgeber. Jedes Unternehmen wird Zeit, Geld und Willen investieren müssen, um seine Zielgruppen auf dem Arbeitsmarkt zu erreichen“, so Hindenberg.

In den Fokus rückt die IHK-Fachkräfteberatung dabei auch Mitarbeitende mit einer besonderen Biografie: Menschen mit Handicap, ältere Beschäftigte sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die aus familiären oder privaten Gründen nur in Teilzeit ausgebildet werden können, oder solche, die sich nach Flucht und Vertreibung hier ein neues Leben aufbauen. Gleichzeitig unterstützt die Kammer Unternehmen beim Finden, Binden sowie Entwickeln und Fördern ihrer Arbeitskräfte und begleitet diese engmaschig auf ihrem Weg.

Durchstarten mit Handicap

Mohamad Rashid ist eine Kämpfernatur. Mit sieben Jahren flüchtete der heute 19-Jährige mit seinen Eltern aus dem syrischen Krieg nach Deutschland. Schnell lernte er die Sprache, fand neue Freunde und besuchte die Schule. Für Mohamad Rashid war der Neuanfang allerdings noch mal so schwer. Aufgrund einer Netzhautdegeneration verfügt der 19-Jährige nur über eine Sehkraft von rund 30 Prozent.

Mohamad Rashid an seinem Arbeitsplatz„Davon habe ich mich aber noch nie ausbremsen lassen“, erzählt er. Die Schule schloss er mit der Fachhochschulreife und einem Notendurchschnitt von 1,8 ab. „Ich wusste früh, dass ich im Bereich Wirtschaft arbeiten will. Aber ich wusste natürlich auch, dass es nicht leicht sein wird, mit meinem Handicap eine passende Ausbildung zu finden.“

Zum Glück traf er zu diesem Zeitpunkt Abraham John, Inklusionsberater bei der IHK Bonn/Rhein-Sieg, der ihm die Reha SB Abteilung der Agentur für Arbeit Bonn empfahl. „Vor unserer Schule wurden Broschüren verteilt und ich habe eine mitgenommen. Heute weiß ich, dass das so etwas wie ein Sechser im Lotto war“, schmunzelt Rashid. Nach einer ersten Beratung wusste Rashid, welche Berufswünsche er hat. Mit der Atos Medical GmbH in Troisdorf war schnell ein passendes Unternehmen gefunden. „Herr John hat meinen Arbeitgeber beim Bewerbungsprozess von Anfang an begleitet, damit mögliche Barrieren frühzeitig erkannt wurden und Missverständnisse erst gar nicht entstehen konnten. Er war sogar, auf Wunsch des Unternehmens, beim Vorstellungsgespräch dabei“, erzählt Mohamad Rashid.

Aber eigentlich hätte der junge Mann diese Hürde auch allein meistern können. „Ich habe mich sofort wohlgefühlt und alle Fragen beantwortet.“ Am Ende hatte er, wie erhofft, einen Ausbildungsvertrag zum „Kaufmann für Marketingkommunikation“ in der Tasche und entwickelt nun Werbe- und Marketingstrategien. „Auch wenn ich als Kind eigentlich Feuerwehrmann werden wollte, so ist das heute mein absoluter Traumberuf“, sagt Rashid.

Sein Arbeitsplatz wurde nur geringfügig verändert. „Ich arbeite an größeren Bildschirmen als meine Kollegen. Zudem hat man mir ein Tablet zur Verfügung gestellt, damit ich Unterlagen einscannen und vergrößern kann. Ansonsten unterscheidet sich mein Arbeitsplatz nicht von anderen.“

Im Herbst steht für den jungen Marketingexperten die Zwischenprüfung an. Aufgeregt ist der 19-Jährige nicht. „Das wird kein großes Problem“, ist er sicher. Gemeinsam mit Berna Cinar und Julia Kobus, der IHK Bonn/Rhein-Sieg, wird er sich zuvor jedoch noch um den Nachteilsausgleich kümmern. „Dabei kann ich mich erneut auf Unterstützung verlassen“, ist Rashid zuversichtlich. Durch den Nachteilsausgleich haben Menschen mit Einschränkungen die Möglichkeit, Prüfungen unter besonderen Bedingungen abzulegen.

Der 19-Jährige hat bereits ganz genaue Vorstellungen, wie es nach der Ausbildung weitergehen soll. „Ich plane ein Duales Studium im Bereich Marketing“, stellt er seine Zukunftspläne vor. Auch dabei wird er sich auf die Unterstützung der IHK verlassen können. „Ohne die Kammer wäre ich heute nicht da, wo ich jetzt bin“, ist Mohamad Rashid überzeugt.

Für die Einheitliche Ansprechstelle für Arbeitgeber für Mitgliedsunternehmen der IHK Bonn/Rhein-Sieg und den IHK-Inklusionsberater Abraham John ist es wichtig, Menschen mit Handicap frühzeitig zu begleiten und gemeinsam Barrieren zu überwinden. „Eine vollumfängliche Unterstützung verringert das Risiko, aufgrund einer Einschränkung einen Nachteil zu erleiden und die Ausbildung nicht zu bestehen“, sagt er. Er informiert über Förderungen und Zuschüsse, Stützunterricht oder Nachteilsausgleich. „Allein der vorherrschende Fachkräftemangel sollte Grund genug sein, auch Menschen mit einer Einschränkung eine Chance zu geben, ihre Talente zu entwickeln“, appelliert er.

Beratung für Unternehmen:
www.eaa-rheinland.de
john@bonn.ihk.de
0228 2284-194

„Mama, Du hast so laut geschrien“

Der heute neunjährige Sohn von Zeinab Zoghi kann sich noch ganz genau an den Moment erinnern, als seine Mutter die gute Nachricht erhielt. „Mama, Du hast so laut geschrien, dass ich mich richtig erschrocken habe“, sagte er damals. Dabei hatte die heute 41-Jährige allen Grund für diesen Freudenschrei. Gerade hatte sie erfahren, dass sie bei der Deutschen Welle (DW) eine Ausbildung im Bereich „Fachinformatik Systemintegration“ machen kann – und zwar in Teilzeit. „Damit konnte ich mich sowohl um meine Kinder kümmern als auch um meine berufliche Qualifikation“, erklärt die Alleinerziehende, die damals mit 38 Jahren ihr Leben noch einmal in neue Bahnen lenkte.

Zeinab Zoghi mit ihren SöhnenJahrelang hatte sie versucht, Kinder und Karriere unter einen Hut zu bringen. Aber außer Praktika wurde ihr nichts angeboten. „Ich trat auf der Stelle und kam nicht weiter. Erst mit dem Angebot der Deutschen Welle, eine Ausbildung in Teilzeit zu absolvieren, hatte ich endlich Aussicht auf eine qualifizierte Berufsausbildung“, berichtet sie heute.

„Um Fachkräfte zu gewinnen und zu halten, ist auch das Modell der Teilzeitausbildung für uns unverzichtbar“, erklärt Dagmar Labude von der DW. „Wir machen seit vielen Jahren äußerst gute Erfahrungen damit. Motivierte und gut strukturierte Menschen durchlaufen die Ausbildung, mit dem Ziel – auch mit schwierigen Bedingungen – etwas zu schaffen und zu einem guten Abschluss zu bringen. Eine solide Ausbildung macht sie zukunftsfähig und fit für die Anforderungen eines immer anspruchsvolleren Arbeitsmarkts. Eine Win-win-Situation für alle Beteiligten.“

Das weiß auch Nicole Senf, Ausbildungsberaterin bei der IHK, die das Programm Teilzeitausbildung eng begleitet und berät.

Familie ernähren statt Studium

Viele Jahre hatte Zeinab Zoghi zuvor vergeblich versucht, in der IT-Branche Fuß zu fassen. Geboren im Irak, wuchs sie im Iran auf. Nach dem Schulabschluss in Teheran wollte sie dort Informatik studieren. Doch kurz zuvor starb ihr Vater und als Älteste von vier Geschwistern musste sie Geld verdienen. Sie arbeitete als Sekretärin, in der Buchhaltung und im Finanzbereich. Ihr eigentliches Ziel, irgendwann in der IT zu arbeiten, verlor die 41-Jährige jedoch nie aus den Augen.

2013 kam sie schließlich nach Deutschland und bekam hier ihre beiden Kinder, mittlerweile sechs und neun Jahre alt. „Anfangs beherrschte ich die Sprache nicht“, erinnert sie sich. Als Mutter von zwei kleinen Kindern war es für sie zudem unmöglich, in Vollzeit eine Ausbildung zu absolvieren. „Zum Glück habe ich dann erfahren, dass die Deutsche Welle Ausbildungen auch in Teilzeit anbietet“, erzählt Zoghi. Sie durchlief den üblichen Bewerbungsprozess und erhielt am Ende jenen Anruf, an den sich der älteste Sohn heute noch ganz genau erinnert.

Den Unterricht absolvierte die sie so wie die anderen Auszubildenden des Senders. Lediglich ihre Arbeitszeit wurde auf 75 Prozent reduziert. „Natürlich waren die vergangenen Jahre nicht immer einfach. Es war oft beschwerlich, die Kinder zu betreuen und gleichzeitig zu lernen. Die Tage waren lang und anstrengend. Aber heute bin ich stolz, dass ich beides gemeistert habe.“ Im Juni hat sie ihre Ausbildung erfolgreich abgeschlossen und arbeitet nun als Technikerin bei der DW. „Und es läuft wirklich sehr, sehr gut“, ist sie rundum zufrieden. Auf den Lorbeeren ausruhen will sie sich dennoch nicht. „Ich werde mich weiterbilden und weiterentwickeln. Schon im Herbst besuche ich die erste Schulung“, sagt die 41-Jährige.

Benefits für fleißige Bienchen

Was sie an ihren 33 „fleißigen Bienchen“ haben, wissen Kristina Trinks und Pascal Rosenhagen ganz genau. 2021 gründeten der examinierte Altenpfleger und die Wirtschaftsfachwirtin in Niederkassel den ambulanten Pflegedienst „Pflegebienen“. In einer Zeit, in der es bereits schwer war, qualifiziertes Personal zu finden.

Das Pflegebienen-TeamWährend die Nachfrage nach einer professionellen Betreuung von Senioren oder kranken Menschen im häuslichen Umfeld steigt, gibt es auf dem Arbeitsmarkt immer weniger Fachkräfte. „Von Anfang an war uns klar, dass wir nicht nur das Wohl unserer Patienten, sondern auch das Wohl unserer Mitarbeitenden im Auge behalten müssen. Sie leisten ihre Arbeit Tag für Tag mit Herz und Verstand. Zuverlässig und hoch motiviert. Und dieses Engagement belohnen wir“, sagt Pascal Rosenhagen. Daher bieten er und Trinks ihren „fleißigen Bienchen“ eine Reihe von Benefits. Mit solchen attraktiven, individuellen und bedarfsgerechten Zusatzleistungen heben sich Unternehmen von der Konkurrenz am Markt ab und drücken gleichzeitig ihre Wertschätzung gegenüber ihren Mitarbeitern aus.

Bei den Pflegebienen gibt es gleich mehrere solcher Angebote. Damit die Angestellten bei der körperlich herausfordernden Arbeit in der Pflege fit und gesund bleiben, übernehmen die Chefs einen großen Teil der monatlichen Mitgliedsbeiträge in einem Sportclub.

Family first

Von starren Arbeitszeitmodellen ist Rosenhagen ebenfalls kein Freund. „Man muss flexibel agieren, wenn man gutes Personal halten will“, ist er überzeugt. Vor allem die jungen Eltern im Team hätten oft Probleme, wenn es bei der Kinderbetreuung unerwartet hakt. „Wir tun alles, damit sie Familie und Arbeit unter einen Hut bringen können. Bei uns gilt das Prinzip ,Family first‘. Wenn’s trotz aller Planung Probleme gibt, suchen wir gemeinsam nach Lösungen.“

Kristina Trinks und Pascal Rosenhagen Bei den Schulungen geht der Betrieb ebenfalls andere Wege und bietet Weiterbildungen ausschließlich online an. „Die Schulungen kann man so bequem von zu Hause aus absolvieren“, erklärt Rosenhagen. Jetzt haben die beiden Gründenden für ihre Mitarbeitenden auch noch eine private Zusatzkrankenversicherung abgeschlossen. Damit sind die „Bienen“ im Ausland versichert und erhalten im Krankenhaus eine Chefarzt-Behandlung. 

Die Resonanz der Beschäftigten auf diese Benefits ist eindeutig. „Unsere Mitarbeiter sind rundum zufrieden“, sagt der Chef. Bisher habe noch niemand den Job gekündigt, weil er sich im Team nicht wohlgefühlt hat. „Und das ist für uns ein gutes Zeichen.“ Nun bietet er Schulabgängern an, Teil des „Bienenschwarms“ zu werden. Seit 1. Oktober bietet der Pflegedienst Ausbildungsplätze an. Mit „Join the Bienenstock“ wirbt er um den Pflegenachwuchs.

Das Salz in der Suppe

„Der demografische Wandel, verbunden mit dem zunehmenden Fachkräftemangel, stellt die regionale Wirtschaft vor vielfältige Herausforderungen“, sagt Silvia Kluth, Referentin in der Fachkräfteberatung der IHK. Nur das Ineinandergreifen verschiedener Instrumente könne helfen, den Herausforderungen erfolgreich zu begegnen: von der Aus- und Weiterbildung Älterer, Erziehender, ausländischer Fachkräfte, Geflüchteter, Menschen mit Handicap sowie bislang nicht in den Arbeitsmarkt Integrierten, bis hin zur allgemeinen Erhöhung der Arbeitgeberattraktivität, Mitarbeiterbindung und der Anpassung der Unternehmenskultur.

All diese Maßnahmen können helfen, trotz des demografischen Wandels und des Fachkräftemangels Arbeitskräfte zu finden und zu binden. Unter dem Motto „Die richtige Prise gegen die Krise“ hat die IHK Strategien, Maßnahmen und Förderprogramme zur Fachkräftegewinnung in einem „Rezeptbuch“ (PDF zum Download) zusammengestellt.

„Es hilft Unternehmen nicht, die passende Fachkraft zu backen. Es soll ihnen aber bewährte Zutaten zur Sicherung ihres Unternehmens bieten. Eben das Salz in der Suppe“, so IHK-Geschäftsführer Jürgen Hindenberg. Das Rezeptbuch sei insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen interessant. „Ein Abgleich lohnt sich aber auch für Betriebe, die bei der Fachkräftegewinnung schon sehr gut aufgestellt sind“, ist er überzeugt.

Gabriele Immenkeppel, freie Journalistin, Bonn