Industriestandort Bonn/Rhein-Sieg
„Die Grundlage unseres Wohlstands erhalten“
Chemiepark LülsdorfSeit Monaten berichten die Medien über die Probleme des Wirtschaftsstandorts Deutschland, insbesondere über die Krise in der Industrie. Auch Bonn/Rhein-Sieg ist ein bedeutender Industriestandort. Unsere Titelgeschichte stellt einige Industrieunternehmen aus der Region vor und zeigt, wie sie mit den vielfältigen Herausforderungen umgehen.
Wenn es ein Thema bis in die Regierungserklärung des Bundeskanzlers schafft, dann kann man davon ausgehen, dass es besonders wichtig ist – und es möglicherweise nicht allzu gut darum bestellt ist. „Wir müssen ganz besonders um die Industrie hier in Deutschland kämpfen“, sagte Olaf Scholz erst vor kurzem im Bundestag. „Darum, dass wir diese Grundlage unseres Wohlstands erhalten.“ Es brauche eine neue industriepolitische Agenda.
Wer die Medienberichterstattung verfolgt, weiß schon seit längerem, dass es der Industrie in Deutschland nicht so gut geht, wie noch vor einigen Jahren. „Kurzarbeit“, „Krise der Autoindustrie“, „Industrie verlässt Deutschland“ – Schlagzeilen wie diese häufen sich. Die Wirtschaftsleistung in Deutschland schrumpfe. Eine der Folgen: eine deutliche Zunahme der Unternehmensinsolvenzen.
Aber noch hat die Feststellung des Kanzlers Gültigkeit: „Deutschland ist ein Industrieland. Wir sind nicht wie viele andere der Verlockung erlegen, die gesagt haben: Industrie kann man abschreiben, Finanzplätze sind das Einzige, was man braucht.“
Dies trifft auch auf den Wirtschaftsstandort Bonn/Rhein-Sieg zu. Dienstleister prägen das Bild, insbesondere in der Stadt Bonn. Dennoch sind sowohl in der Beethovenstadt als auch im umgebenden Landkreis bedeutende Industrieunternehmen, teils seit vielen Jahrzehnten, angesiedelt. Sie spielen für den Wohlstand vor Ort und darüber hinaus eine immense Rolle. Wie geht es diesen Unternehmen? Und was fordert sie heraus?
Vielseitige Branche mit Innovationskraft
Auch für unsere Region gilt: Rezession und Stagnation setzten sich ebenfalls hier fest. Das konstatiert der jüngste Wirtschaftslagebericht der IHK Bonn/Rhein-Sieg. Der IHK-Konjunkturklimaindex liegt im Herbst 2024 deutlich unter dem des Frühjahres. Für die Industrie heißt das: Die Auftragseingänge aus dem In- und Ausland sinken weiter, vor allem die nachlassende Inlandsnachfrage stellt nach Ansicht der Firmen das Hauptrisiko dar. Ähnlich negativ beurteilen sie die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen sowie die Energie- und Rohstoffpreise. Deshalb leiden nicht wenige Betriebe unter Liquiditätsengpässen und fahren ihre Investitions- und Beschäftigungspläne herunter.
Das trifft aber längst nicht auf alle Unternehmen zu. Es gibt zahlreiche Industriebetriebe in der Region, die mehr Fachkräfte beschäftigen wollen. Die in Anlagen investieren oder gerne mehr Flächen zur Verfügung hätten. Und die besonders innovativ sind, wenn es darum geht, die Herausforderungen zu meistern. „Die Wirtschaft“ hat mit vier Industrieunternehmen gesprochen. Die Auswahl zeigt die Vielseitigkeit der Branche im IHK-Bezirk Bonn/Rhein-Sieg.
Verglasung widerstandsfähiger machen
In Troisdorf unterhält die Kuraray Europe GmbH, ein zum japanischen Konzern Kuraray gehörendes Spezialchemie-Unternehmen, seinen größten Europa-Standort. Hergestellt werden hier Folien aus Polyvinylbutyral (PVB), die in Verbund-Sicherheitsglas zum Einsatz kommen, etwa in Windschutzscheiben, Seitenverglasungen und Sonnendächern von Fahrzeugen. Auf fünf Anlagen können jährlich bis zu 50.000 Tonnen der Folie gefertigt werden. Das Produkt ist weltweit gefragt. Sogar in dem Spezialglas des berühmten Skywalks hoch über dem Grand Canyon in den USA ist PVB-Folie aus Troisdorf verbaut.
„Obwohl man sie nicht sieht, spielen unsere Produkte eine wichtige Rolle im Alltag der Menschen“, betont Dr. Holger Stenzel, Standortleiter der Troisdorfer Niederlassung, die mit 380 Beschäftigten als größter Arbeitgeber im Industriepark Troisdorf gilt. Weitere Produkte der Kuraray-Gruppe sind etwa thermoplastische Elastomere, Barrierekunststoffe, Kunstleder oder Fasern für die Verstärkung von Beton.
Wichtige Vorprodukte für die Halbleiter-Industrie
Auch die Produkte von SGL Carbon sind für die Wirtschaft sowie für viele Verbraucherinnen und Verbraucher von größerer Bedeutung, als letztere oft ahnen. Das weltweit tätige Unternehmen, dessen Werk im Bonner Stadtteil Pennenfeld mit 850 Beschäftigten der zweitgrößte der weltweit 29 Firmenstandorte ist, hat sich auf Materialien und Produkte aus Spezialgraphit und Verbundwerkstoffen spezialisiert. Zum Einsatz kommen sie etwa in der Halbleiter-Industrie oder bei der Herstellung von LEDs und Photovoltaik-Anlagen. Das Werk in Bonn hat dabei innerhalb des Konzerns eine Schlüsselrolle, denn hier entstehen die Ausgangsprodukte, die an den anderen Standorten weiterverarbeitet werden.
Chemische Produkte für Biodiesel und Lebensmittel
Auch Niederkassel ist ein wichtiger Industriestandort in der Region. Größter Akteur: der Chemiepark Lülsdorf. Auf einer Fläche von einer Million Quadratmetern stellen rund 500 Mitarbeitende in zahlreichen Produktionsanlagen der ansässigen Unternehmen Lülsdorf Functional Solutions GmbH und KFS Biodiesel Produkte her, die weltweit zum Einsatz kommen, etwa bei der Herstellung von Biodiesel, Lebensmitteln und Pharmazeutika.
Rafael Reiser ist sowohl Geschäftsführer von Lülsdorf Functional Solutions als auch der Chemiepark Lülsdorf GmbH. Letztere versteht sich als Infrastrukturdienstleisterin für die Unternehmen, die sich hier bereits angesiedelt haben oder noch ansiedeln werden. Zur Infrastruktur gehört sogar ein eigener Rheinhafen. Kapazitäten für weitere Ansiedlungen gibt es genug: 35 Prozent der Fläche nutzen die jetzigen beiden Unternehmen, 25 Prozent sind gerade in der Vermarktung. „Und weitere 400.000 Quadratmeter können wir erschließen, sobald Bedarf dafür da ist“, erklärt Reiser.
Die Bedeutung des Chemieparks für die Region verdeutlicht der Manager an ein paar Zahlen. Man zahle rund 50 Millionen Euro jährlich für Gehälter, die wiederum als Kaufkraft der Region zugutekommen würden. Weitere 30 Millionen Euro gäben die ansässigen Unternehmen für Dienstleistungen in der Region aus. „Wir sichern Wertschöpfungsketten“, sagt Reiser.
Die Präzision von Laserstrahlen erhöhen
Nicht nur Mittelständler und große Unternehmen prägen den Industriestandort Bonn/Rhein-Sieg. Industriedienstleister und innovative Start-ups gehören ebenfalls dazu. Zum Beispiel die Midel Photonics GmbH in Bonn-Beuel. Der Fokus des noch jungen Unternehmens: Materialbearbeitungsprozesse mit Laser. Die Technologie kommt beispielsweise zum Einsatz, wenn in der Industrie Mikrochips oder Glas geschnitten oder Kupfer geschweißt werden muss.
„Laser sind aber oft wie ein stumpfes Messer“, beschreibt Frederik Wolf das Problem. Dabei käme es bei den genannten und vielen weiteren Anwendungsfällen jedoch unbedingt auf Präzision an – allein schon, um den Verschnitt zu reduzieren und damit wertvolle Ressourcen einzusparen.
Gemeinsam mit drei weiteren Physikern – die vier hatten sich über ihre Forschungstätigkeit am Institut für Angewandte Physik der Universität Bonn kennengelernt – stieg Wolf intensiver in die Materie ein. Die Wissenschaftler wussten, dass man einen Laserstrahl formen kann. Darauf bauten sie ihre Forschungs- und Entwicklungsarbeit auf. Heraus kam ein Verfahren zur Mikrostrukturierung von Laserspiegeln. „Je nachdem wie man solche Spiegel bearbeitet, reflektieren sie einen Laserstrahl so, dass ein hochpräziser Strahl dabei herauskommt“, erklärt Wolf. Die Forscher meldeten ein Patent für ihr Verfahren an und gründeten ein Unternehmen zur weiteren Entwicklung sowie Vermarktung.
Nach einer erfolgreichen Finanzierungsrunde mit dem in Bonn ansässigen Hightech-Gründerfonds und mehreren Business-Angeln konnte das junge Unternehmen 2023 an den Start gehen und auch schon erste Umsätze erzielen. Erster Auftrag: ein Präzisionsspiegel für einen Kupfer-Schweißprozess in der Automobilindustrie. Inzwischen zählt Midel Photonics schon eine Reihe von mittleren und großen Industrieunternehmen zu seinen Kunden.
Regionale Herausforderungen
Trotzdem beklagen selbst erfolgreiche, innovative Unternehmen wie die hier vorgestellten zunehmende Herausforderungen. Manche davon haben globale, manche Deutschland-spezifische, manche aber auch regionale Ursachen.
Zum Beispiel die knappe Ressource Fachkräfte. Zwar loben die Unternehmen, dass es in der Region ein großes Reservoir an Fachkräften sowie jungen Menschen gebe, die als Auszubildende den Nachwuchs von morgen bilden. Aber: Sie sind bei vielen Industriebetrieben im Rheinland ebenfalls äußerst begehrt, sie konkurrieren stark um diese Fach- und Nachwuchskräfte. „Uns kommt bei der Akquise zwar unser Bekanntheitsgrad zugute“, sagt etwa Kuraray-Manager Holger Stenzel, „dafür ist unser Bedarf aber enorm, weil wir wegen des demografischen Wandels in den nächsten Jahren ein Fünftel unseres Personals ersetzen müssen.“
Dr. Christine LöttersEin Problem, das sich erschwerend auf die Fachkräftegewinnung auswirkt: das Image der Industrie. „Die hiesigen Industriebetriebe erfahren zu wenig Wertschätzung in Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit und sind auch als Arbeitgeber in der Öffentlichkeit zu wenig bekannt“, sagt Dr. Christine Lötters von der gleichnamigen Bonner PR-Agentur.
Sie kennt sich in der Industrie aus. Unter anderem begleitet sie seit einigen Jahren die Kunststoff-Initiative Bonn/Rhein-Sieg – ein Netzwerk, mit dem die Branche in der Öffentlichkeit auf ihre Bedeutung für die Region und den Kunststoff als Material aufmerksam macht – mit Kommunikationsmaßnahmen. Dieses Jahr beauftragte die IHK Bonn/Rhein-Sieg sie mit der Durchführung der Image-Kampagne „In|du|strie – Gemeinsam Zukunft Leben“. Sie soll stärker ins allgemeine Bewusstsein rücken, was Industrie in der Region macht und wie wichtig sie im Alltag ist.
Nachhaltige Transformation
Julia HertingEine riesige Herausforderung, vor der alle Industriebetriebe, nicht nur in der Region, stehen, ist die Transformation hin zum nachhaltigen Unternehmen. Hier leisten die hiesigen Unternehmen bereits enorme Anstrengungen. Bei SGL Carbon beispielsweise ist das Ziel klar: „Als Gesamtkonzern wollen wir bis 2038 klimaneutral produzieren“, sagt Julia Herting, Standortleiterin SGL Carbon in Bonn. Bis Ende 2025 sollen die eigenen CO2-Emissionen bereits um 50 Prozent gegenüber 2019 sinken.
Jeder Standort muss dazu den bestmöglichen Beitrag leisten – natürlich abhängig von den örtlichen Bedingungen. „Wir schauen, welcher Standort mit welchen Maßnahmen die meisten Effekte erzielen kann“, erklärt Herting die Strategie. In Bonn konnte SGL Carbon die CO2-Emissionen in den vergangenen fünf Jahren um fast 20 Prozent reduzieren.
Der Energieverbrauch am hiesigen Standort ist dennoch gewaltig: etwa 100 Gigawattstunden pro Jahr, je zur Hälfte Strom und Gas. Perspektivisch setzt das Unternehmen deshalb auf Wasserstoff. „Am liebsten würden wir hier den benötigten Wasserstoff selbst erzeugen“, sagt die Standortleiterin. Allerdings gebe es keinen Platz für eine Anlage in der erforderlichen Größe. Die Bahnstrecke, die B 9 und Wohnbebauung verhindern eine weitere Expansion. Herting engagiert sich in Bonn mit der IHK, der Stadt, den Stadtwerken und anderen Industrieunternehmen im „Arbeitskreis Wasserstoff“. Derzeit geht es dort vor allem darum, eine solide Datenbasis zu erstellen und der Bundesnetzagentur die künftigen Bedarfe zu melden. Denn: „Wenn eines Tages das angedachte Wasserstoffkernnetz kommt, möchten wir sicherstellen, dass die Region Bonn adäquat versorgt wird“, betont Herting, „das ist entscheidend für den Industriestandort.“
Bei Kuraray Europe lautet die Vorgabe: Die CO2-Emissionen bis 2030 im Vergleich zu 2019 um 30 Prozent zu verringern. Weil Erwärmen und Abkühlen bei vielen chemischen Prozessen eine wesentliche Rolle spielen, ist die Produktion in Troisdorf energieintensiv. „Durch den konsequenten Einsatz von Industrie-Wärmepumpen konnten wir den Gasverbrauch deutlich reduzieren“, erklärt Standortleiter Stenzel.
Zur nachhaltigen Transformation bei Kuraray gehört auch konsequentes Recycling. „Hier sammeln wir schon seit den Siebzigerjahren Know-how und Erfahrung“, betont Stenzel. Schon seit 20 Jahren nehme man Material von Kunden zurück und führe es erneut dem Produktionsprozess zu. In Tschechien unterhält Kuraray ein Werk, in dem PVB-Folie ausschließlich aus Recyclingmaterial gefertigt wird. „Außerdem positionieren wir uns verstärkt mit ‚Value statt Volume‘, also höherwertigen Produkten, die nur wenige Anbieter beherrschen“, berichtet Stenzel. Als Beispiel nennt er eine Spezialfolie für Head-up-Displays in Fahrzeugen. „Auch das“, sagt Stenzel, „ist Teil unserer Transformation.“
Zunehmende Bürokratie
Ein großes Aufreger-Thema in der Industriebranche ist die zunehmende Bürokratie. Rafael Reiser nimmt hier kein Blatt vor den Mund. „Die zunehmende Bürokratie ist ein großes Ärgernis“, sagt der Geschäftsführer des Chemieparks Lülsdorf, „der Staat mischt sich viel zu sehr in die unternehmerische Freiheit ein.“
Er beklagt zum Beispiel die steigende Komplexität der Regelungen. So sei etwa die neue Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft (TA Luft) viel umfangreicher und komplizierter als die vorherige Version. „Sie bringt aber nur geringe Verbesserungen“, moniert der Unternehmer, „das jedoch bei einem wesentlich höheren Umsetzungsaufwand.“ Das sei auch bei der Energiepreisbremse der Fall gewesen. „Das Regelwerk war so kompliziert“, sagt Reiser, „dass wir eine Anwaltskanzlei damit befasst haben…“
Nach Beobachtung von Dr. Matthias Mainz sind das nicht nur einzelne Stimmen. „Früher stand bei IHK-Konjunkturumfragen immer ‚Höhe der Steuerbelastung‘ auf Platz eins der Standorthemmnisse“, erzählt der Geschäftsführer Wirtschaftspolitik und Digitalisierung bei IHK NRW. „Die steuerliche Belastung ist unverändert hoch, doch seit ein paar Jahren steht ‚Bürokratie‘ ganz oben.“
Sehr viele Unternehmen würden über lange, schleppende Genehmigungsverfahren klagen, Bauanträge zum Beispiel würden viel zu lange liegenbleiben. Zudem kämen immer weitere Berichtspflichten hinzu. „Die Belastung steigt stetig – und das trotz aller Bürokratieentlastungsgesetze.“ Um die ständig neuen Regularien implementieren zu können, nehme in allen Betrieben der personelle Aufwand und damit die Standortkosten zu.
IHK NRW, der Zusammenschluss der nordrhein-westfälischen Industrie- und Handelskammern, setzt sich auf Landesebene intensiv für Entbürokratisierung ein. „Wir brauchen hier dringend Fortschritte“, argumentiert Mainz, „denn die Unternehmen brauchen jetzt Entlastungen, um sich voll auf die Transformation konzentrieren zu können – und auf ein erfolgreiches Tagesgeschäft.“
Mit den Worten des Bundeskanzlers: „Damit es vorangeht in Deutschland!“
Von Lothar Schmitz, freier Journalist, Bonn